F. Ott: Die zweite Philippica als Flugschrift in der späten Republik

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Title
Die zweite Philippica als Flugschrift in der späten Republik.


Author(s)
Ott, Frank-Thomas
Series
Beiträge zur Altertumskunde 326
Published
Berlin 2013: de Gruyter
Extent
XI, 615 S.
Price
€ 129,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations, Northeast Normal University, Changchun (China)

Die zweite, nie gehaltene Philippische Rede gegen Antonius aus der Feder Ciceros galt bereits in der Antike als ein monumentales Zeugnis der „Redekunst“, und die zahlreichen (Schul-)Ausgaben, Kommentare und Artikel zeigen eine lebhafte Rezeption (auch in breiteren Kreisen) bis zum heutigen Tage. Kann man diesem „Monument“ also noch etwas Neues abgewinnen, gar hinter die reich verzierte Fassade schauen?

Man kann! Die umfangreiche, leicht gekürzte (!) Dissertationsschrift von Frank-Thomas Ott legt mit ihrer dezidiert literaturwissenschaftlich-kommunikationstheoretischen Analyse einen neuen, allerdings nicht immer leicht nachzuschreitenden Zugang zur zweiten Philippica. Ausgangspunkt ist für Ott dabei die Definition der fiktiven Rede als „Flugschrift“ (S. 8–65). Indem er hier ältere, allerdings unsystematische Zuschreibungen (etwa von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) aufnimmt und sich hiermit von modernen Gegenströmungen absetzt, die eine breitere Medialität verneinen1, versucht er sich an der Entwicklung systematischer Kriterien für eine „antike Flugschrift“, wobei er antike rhetorische Systematisierungsversuche in den theoretischen ciceronianischen Rhetorikschriften mit dem rezenten semiotischen Modell Umberto Ecos kombiniert. Dabei definiert er die „Flugschrift“ als ein „Medium der Tages- und Gebrauchsliteratur […], das sich zunächst in schriftlicher Form an ein größeres Publikum wendet“ (S. 12); die Hauptintention des antiken Verfassers sei die propagandistische Einwirkung auf das Publikum. Dass Otts „Neudefinition“ dabei nicht so weit entfernt von antiken Zuschreibungen ausfällt, muss der Autor dabei selbst konzedieren (so S. 64), wenn man etwa das Konzept einer Lob- und Tadelrede (laudatio/vituperatio) betrachtet. Es ist allerdings ein großes Verdienst seiner detaillierten Analyse der antiken rhetorischen Lehrschriften, sowohl die höhere Flexibilität hinsichtlich der Fiktionalität als auch die unterschiedlichen Rezipientenebenen von derlei „Flugschriften“ im Vergleich zu tatsächlich gehaltenen Reden herauszuarbeiten.

Mit diesem Modell macht er sich im Folgenden an die Analyse der zweiten Philippica Ciceros. Neben einem generellen Überblick und einer Diskussion zum Charakter als „Flugschrift“ (Kapitel 3, S. 66–129) nimmt er vier berühmte Passagen (das Prooemium, die Rhetorik-Nachhilfestunde, die Curio-Episode und die Luperkalien-Episode) dieser mit Abstand längsten Philippica in den Blick. Bei der allgemeinen Einordnung der Schrift vertieft Ott zunächst seine bereits getätigte Kategorisierung als „Flugschrift“, indem er auf die unterschiedlichen Ebenen von Mimesis in dieser Philippica (fiktive Senatssitzung, fiktive Antwortrede auf eine tatsächlich gehaltene des Antonius, fiktive „senatorische“ Zuhörerschaft und fiktive Erzählungen innerhalb der Rede) sowie die Programmbereiche der vertröstenden und bereichernden Rhetorik, also der Kombination von traditionellen rhetorischen Elementen und szenographisch-erzählenden Abschnitten aufmerksam macht. Sodann referiert er die umfangreiche philologische wie althistorische Forschung und argumentiert mit guten Gründen, so etwa durch das Aufzeigen von Parallelen mit der varronischen Bimarcus-Schrift, für ein Umlaufen des Textes Ende des Jahres 44 v.Chr., was aus dem ciceronianischen Briefcorpus (leider) nicht endgültig eruiert werden kann.

Mit großer literaturwissenschaftlicher Akribie und unter Definition von verschiedenen Fiktionsräumen der Erzähltheorie (homodiegetische und heterodiegetische) mit unterschiedlicher Ausprägung der persona Cicero (auktorial, erzählend, erzählt, redend; als Redner, Erzähler oder Propagandist) und mit jeweils unterschiedlichem, meist nicht stark ausgeprägten Bezug zur extratextuellen „realen“ Welt rückt Ott den einzelnen Episoden zu Leibe. Gerade hier mehren sich oftmals allerdings sprachliche Ungetüme; herausgegriffen sei: „Eine Analyse dieser mimetischen Bewusstseins- und Fiktionsräume setzt die genauere Analyse von deiktischen Formen, wie Text-, Personen-, Orts-, Diskurs-, Erzähl- und Kommunikationsdeixis, sowie die Bestimmung, Kategorisierung und Zuordnung von deiktischen Elementen, wie Pronomina, Verben der Performanz und Aussagemodi, in den verschiedenen Ebenen der Fiktionsräume voraus“ (S. 239f.). Diese mindern den Lesefluss deutlich, auch könnte man über deren Sinn an der einen oder anderen Stelle streiten. Trotzdem vermag Ott einerseits Ciceros Selbstmythifizierung als erster und wahrer Verteidiger des Staates (defensor rei publicae) und andererseits dessen Herabwürdigung des Antonius nicht nur als Staatsfeind (hostis rei publicae bzw. patriae), sondern auch als moralisch vollkommene, nicht mehr menschlichen Standards entsprechende persona herauszuarbeiten. Dies kann er sowohl an der verwendeten Terminologie als auch in der lateinischen Text- und Lautstruktur wie der Rhythmik (vgl. Kapitel 8.3, S. 516–525) aufzeigen, womit er zu einer geschlossenen, dichten Interpretation gelangt. Gerade bei der Gegenüberstellung von extratextueller „Realität“ und den unterschiedlichen, von Cicero kreierten Fiktionsräumen hätte man sich einen noch geeigneteren theoretischen Zugang, etwa denjenigen der Rahmenanalyse von Erving Goffman, gewünscht, mithilfe dessen man den Transfer der gestalteten Fiktionsräume in eine propagandistische „Wirklichkeit“, für Cicero wie Rezipienten, deutlicher erklären könnte.2

Die umfangreichen Ergebnisse seiner Arbeit legt Ott dann in seiner Zusammenfassung (S. 527–549) dar, wobei er die immer wieder mitverhandelten Wirkungen der Rede noch einmal konzentriert hervorhebt: die kurzfristige Mobilisierung der Anhänger, das mittelfristige Scheitern der Konzeption Ciceros spätestens 43 v.Chr. sowie die langfristige Monumentalisierung der Rede in der Kaiserzeit unter Entkleidung der einstigen politischen Funktion. Diese Konzentriertheit vermisst man leider des öfteren im Hauptteil der Arbeit, der von häufigen Repititionen nicht nur bereits vorher dargelegter Sachverhalte, sondern auch von immer wieder auftauchenden gleichen Anmerkungen, überschwemmt ist und dessen Erkenntnisfluss eher einem Mäandrieren denn einem stetig-stringenten Zielerstreben gleicht. Hier wie auch hinsichtlich der doch häufigen orthographischen und interpunktionellen Ungenauigkeiten hätte sicherlich ein sorgfältigeres Lektorat notgetan. So kann Ott zwar der zweiten Philippica interpretativ einiges Neues abgewinnen, bleibt jedoch mit seiner Darstellung stilistisch hinter seinem „Monument“ zurück.

Anmerkungen:
1 Vgl. besonders prominent Armin Eich, Politische Literatur in der römischen Gesellschaft. Studien zum Verhältnis politischer und literarischer Öffentlichkeit in der späten Republik und frühen Kaiserzeit, Köln 2000.
2 Vgl. Erving Goffman, Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience, New York 1974. Zu einer Anwendung auf antike (literarische) Schaffung von „Ordnungsrahmen“ vgl. Sven Günther, Framing the Financial Thoughts of Aeneas Tacticus: New Approaches of Theory to Economic Discourses in Antiquity, in: Journal of Ancient Civilizations 29 (2014), im Druck.

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